Landsberger Tagblatt vom 23.05.2005
Eines von 10 000 Kindern wird mit nur einem Arm geboren – Selbsthilfegruppe trifft sich
Von Andreas Hoehne
Fuchstal: Ein Stolperstein auf dem Weg zur Million in Günther Jauchs Fernsehshow wäre sicher die Frage „Was ist Dysmelie?“ „Hand in Hand“ heißt eine Selbsthilfegruppe aus unserem Raum, die sich nun schon seit sieben Jahren zu einer von vielen Aufgaben gemacht hat, die Öffentlichkeit über diese seltene Erscheinung besser zu informieren.
In Fuchstal kamen kürzlich etwa 90 Mitglieder dieser Initiative zu ihrem jährlichen Treffen zusammen. „Dysmelie“ rückte vor etwa 45 Jahren für längere Zeit in den Blickwinkel der deutschen Öffentlichkeit durch die vom Schlafmittel „Thalidomid“ ausgelöste Welle an „Contergan-Babys“. Weniger bekannt ist allerdings, dass auch vorher und nachher Kinder mit fehlenden oder fehlgebildeten Armen und Beinen geboren wurden. Warum dies bei etwa einer von 10 000 Geburten der Fall ist, konnte noch nicht geklärt werden. Man schließt zumindest eine erbliche Anlage aus und vermutet äußere Einflüsse in den ersten Wochen der Schwangerschaft. Die in dieser Zeit stattfindende „Ausstülpung“ der Ärmchen und Beinchen dauert nur wenige Stunden. Doch nicht nur über die möglichen Ursachen sprechen die Mitglieder von „Hand in Hand“ mit den Eltern, die kurz nach der Geburt ihres von Dysmelie betroffenen Kindes oft völlig ratlos und ohnmächtig auf die Gruppe zukommen. Kompetente Auskünfte von Geburtshelfern, Hebammen und Kinderärzten sind angesichts der Seltenheit der Krankheit Mangelware, berichten Alexandra Sommer und Annette Guggenmos aus Leeder, die vor sechs und vor vier Jahren Kinder mit verkürzten Armen zur Welt brachten.
Mittlerweile wissen sie aus eigener Erfahrung, dass ihre Kinder sich ansonsten „kerngesund“ und fast ohne psychische Beeinträchtigungen hin zu „einem selbstbestimmten und selbstständigen Leben“ entwickeln. Etwas, was sie gerne an die „Neuen“ weitergeben. Noch mehr Wissen kann Isabella Nölte aus Landsberg einbringen, die zusammen mit Alexandra Sommer die Gruppe organisiert. Sie kam vor 38 Jahren ohne rechten Unterarm zur Welt und hat heute selbst drei gesunde Kinder. Sie erklärt auch, warum sie zu den wenigen selbst betroffenen Erwachsenen in der Initiative gehört. Man empfinde sein Handicap von Kindheit an als etwas Selbstverständliches, meint sie, und wachse damit auf wie mit einer zu großen Nase, an die man sich eben mit der Zeit gewöhnt. „Dass mir etwas fehlt, wurde mir nur durch meine Umwelt bewusst“, berichtet die Landsbergerin von ihren Erfahrungen. Erst mit dem Kontakt zur Selbsthilfegruppe erfuhr sie übrigens die Bezeichnung für diese Fehlbildung.
Eigene Kniffe : Erinnern kann Isabella Nölte sich an eine problemlos verlaufende Schulzeit. Nur vor der dritten Klasse habe sie ziemlich Angst gehabt, verrät sie, denn da stand das Stricken auf dem Unterrichtsplan, etwas, was sie natürlich absolut nicht konnte. Ansonsten verstand sie es ebenso wie andere Betroffene, eigene Kniffe bei der Lösung von Alltagsproblemen wie etwa das „Schuhebinden“ zu entwickeln. Seine Behinderung kompensiere man zudem durch den Hang zum Perfektionismus auf anderen Gebieten, was dazu führt, dass Dysmelie-Kinder zumeist sehr wissbegierig und strebsam sind. Die reibungslose Integration ihrer Kinder in Schule oder Kindergarten können Alexandra Sommer und Annette Guggenmos voll bestätigen. Zumeist fragen die anderen Kinder nur, ob „es denn weh tue“ und sind dann voll beruhigt, wenn dies verneint wird. Unpassende Reaktionen erlebe man gelegentlich nur seitens Erwachsener.
Das Tragen einer Prothese aus kosmetischen Gründen erachten die Kinder deshalb oft als unnötig. Der sechsjährige Tobias Sommer wünschte sich seine „myoelektrische Prothese“, die über die Muskelimpulse im Armstumpf gesteuert wird, deshalb auch nur, um das Fahrradfahren zu erlernen. Die vierjährige Lea Guggenmos besitzt eine weitgehend funktionsunfähige „Schmuckhand“, in deren „Finger“ sie aber zumindest einen Gegenstand zum Halten einklemmen kann. Mit der sie übrigens auch sehr unverkrampft umgeht, denn auf die Frage eines anderen Kindes, „wo denn ihre Hand sei“, erklärte sie kürzlich ganz spontan: „Daheim auf dem Küchentisch!“
Lernen können diese Kinder sicher vieles, heißt es häufig in der Umgebung, doch Dinge wie etwa „das Klettern“ bleiben ihnen für immer versagt. Um ganz selbstbewusst das Gegenteil zu beweisen, verlegte die Selbsthilfegruppe den zweiten Teil ihres Treffens in die Fuchstalhalle mit ihrer Kletterwand.
Die achtjährige Amelie Graßl aus Amberg bei Buchloe, deren Eltern Susanne und Uli Graßl vor sieben Jahren „Hand in Hand“ gegründet hatten, bewies als erste, dass mit Prothese „nichts unmöglich ist“. Auch die Kleinen, wie etwa Lea, versuchten es dann gut gesichert zumindest ein kleines Stückchen an der Wand, und alle Kinder wurden mit herzlichem Applaus für ihren Mut belohnt. Passend dazu hatte man sich am Vormittag im Ascher „Haus der Begegnung“ in einem Vortrag über Sportprothesen informiert. Bei einem früheren Treffen war auch schon Andrea Hegen aus Donauwörth dabei gewesen, die heuer bei den Paralympics in Athen die Goldmedaille im Speerwerfen gewonnen hat. Da sie dieses Mal verhindert war, selbst nach Asch zu kommen, wurde zumindest ein Film über das „große Vorbild“ gezeigt, das mittlerweile in Leverkusen trainiert.
Dankbar waren die Initiatoren dafür, dass die Gemeinde, die Kirchenverwaltung und der Skiclub Asch alle benötigten Einrichtungen kostenlos zur Verfügung gestellt hatten. Da „Hand in Hand“ über keine festen Mittel verfügt, war man früher schon weite Strecken gefahren, um einen kostengünstigen Raum nützen zu können. Auch dieses Mal nahmen aber einzelne Familien mehrstündige Anfahrten in Kauf, um an dem für sie überaus wichtigen Treffen teilnehmen zu können. Die Gruppe „Hand in Hand“, die selbst einen eigenen Internetauftritt plant, ist über Alexandra Sommer in Leeder, Isabella Nölte in Landsberg oder über die e-Mail-Anschrift „handinhand.selbsthilfe@web.de“ zu erreichen. Wer die Arbeit von „Hand in Hand“ aktiv unterstützen möchte, kann dies durch eine Spende auf das Konto 78079282 bei der Sparkasse München (Bankleitzahl 70150000).
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